Helmut Newton – der junge jüdische Fotograf, aus Nazi-Berlin vertrieben, wird nach einer Odyssee durch die Welt zum Superstar. Er entwirft mit seinen Fotos ein neues, oft provozierendes Frauenbild. Damit prägte er für lange Zeit nicht nur die Fotografie.
Anlässlich seines 100. Geburtstags erzählt Regisseur Gero von Boehm nicht nur die berührende Lebensgeschichte Helmut Newtons. Er wirft dabei einen ganz besonderen Blick auf das Zentrum von Newtons Werk: die Darstellung des weiblichen Körpers.
hier ein Beitrag zum Film der ZDF-Kultursendung Aspekte
FETISCH, FASHION UND FREIHEIT – HELMUT NEWTONS LEBENSWERK
Von Ulf Pape, Autor
Die Machtfrage des nackten Körpers stellt kein anderer Fotograf des 20. Jahrhunderts so laut und deutlich wie Helmut Newton.
Vier Frauen gehen leicht versetzt zueinander auf die Kamera zu, in „Dressed“ tragen sie aktuelle Mode, Business-Looks, würde man heute sagen. In „Naked“ tragen sie nichts als die High Heels, auf denen sie gehen, von Newton festgehalten, aus einer leichten Unterperspektive. Auf beiden Bildern stehen die vier Frauen in den exakt gleichen Körperhaltungen. Die Aufnahmen gleichen sich abgesehen von dem Gegensatz „angezogen – nackt” wie eineiige Zwillinge. Allein die Suche nach dem Unterschied zwischen den beiden Bildern wirft eine Dialektik auf, die für das gesamte Werk Helmut Newtons steht: Die Frage nach Stärke und Schwäche.
Mit seinem 1981 für die französische Vogue produzierten Bildpaar „Sie kommen, Paris (Dressed and Naked)” offenbart Newton seine Lust an der Verschränkung von Fashion- und Aktfotografie. Jedes fotografische Genre fügt sich in Newtons Schaffen zu Unterkategorien der Aktfotografie. Geschlechterrollen unterläuft er so anspruchsvoll, dass er den nackt fotografierten Körper vom Verdacht der Anrüchigkeit befreit.
Die Präsentation der Frauenkörper ruft Vergleiche auf, die von antiken Karyatiden, jenen weiblichen Skulpturen, die in der Architektur wie Säulen tragende Funktion haben, über Botticellis „Geburt der Venus” (1486) bis hin zu Oskar Schlemmers „Bauhaustreppe” (1932) reichen. Die Mode spielt eine weitaus kleinere Rolle als die Modelle. Die vier Frauenkörper vermitteln nicht nur den Unterschied zwischen Kleidung und Nacktheit, sondern auch den Unterschied zwischen Nacktheit und Entblößung.
Die Inszenierung des Körpers im Raum oder im Verhältnis zu anderen Körpern wirft bei Helmut Newton immer Fragen von Dominanz, Verfügbarkeit und Machtgefälle auf – auch dann, wenn es ein männlicher Akt ist, etwa Helmut Berger, 1984 in einem Haus in Beverly Hills, vor einem pompösen Kamin fotografiert, seinen Penis zur Kamera gewandt, sich selbst im Spiegel betrachtend. Oder, ebenfalls in Beverly Hills: Playboy-Verleger Hugh Hefner, versunken im Lehnstuhl, aus einer Flasche trinkend, während sich CarrieLeigh, früheres Playmate und seine damalige Ehefrau, an ihn lehnt, leicht abgewandt, sehr gelangweilt.
Jedes noch so valide Urteil über Abhängigkeit zueinander scheint sich im selben Bild selbst infrage zu stellen. Es ist gerade die widersprüchliche Dynamik des Begehrens, die Verunsicherung der Herrschaft, die Newton ästhetisiert. Wenn Nadja Auermann sich an ein Shooting mit Newton in einem Hotelzimmer in Monaco erinnert, macht sie eine Feststellung, die das stärkste Spannungsfeld im Werk Newtons umschreibt: „… ich sehe aus wie eine Barbie-Puppe, die nach dem Spielen einfach so da liegen gelassen wurde.” Tatsächlich imitiert das an diesem Tag entstandene Foto eine Puppe: auf dem Rücken liegend, steife Beine, rosafarbene Federboa, vom Spielen zerzauste Haare und unmenschlich weit geöffnete Augen. Die Spannung entsteht aus der Frage, ob Newton kritisiert, indem er inszeniert – bei gleichzeitiger Überhöhung der Körper. Der Kunsthistoriker Klaus Honnef schreibt: „Er hat vielmehr dem nackten menschlichen Körper erst zu seinem eigentlichen Recht in der Photographie verholfen, indem er dessen erotische Ausstrahlung betonte.”
Nadja Auermann führt über das Motiv als Puppe fort: „Man kann sagen, das ist sexistisch oder frauenfeindlich, aber man kann auch sagen, er hält der Gesellschaft einen Spiegel vor und zeigt, du möchtest, dass deine Frau im Minirock rumrennt und im Grunde behandelst du sie wie eine Barbie.”
Im späten 19. Jahrhundert wurde Mode an menschgroßen Puppen aus Weidengeflecht präsentiert, wie die Kunsthistorikerin Sylvie Lécallier in einem Essay über die Rolle des Models in der Modefotografie darstellt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verabschiedeten Couturiers sich von ihnen und präsentierten ihre Kollektionen an Mannequins. Ab etwa 1910 von Modellen florierte die Modefotografie – und mit ihr der Beruf des Models. Mit dem Heranwachsen der Mode zu einer Industrie, hat sich das Verhältnis aus Modefotograf zu Model entwickelt, das wiederum vom Spannungsverhältnis männlicher und weiblicher Projektionen bestimmt war. Die großen ästhetischen Zäsuren setzten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Fotografen wie der Deutsche Adolphe de Meyer für die Vogue, unter dem Verleger Condé Nast in New York, außerdem der Amerikaner Edward Steichen, der Franzose Man Ray und der Brite Cecil Beaton.
Nachdem seit den 1950er Jahren mit Irving Penn und Richard Avedon von New York aus der Minimalismus die Modefotografie beherrschte, kam der nächste große Epochenimpuls in den späten 1960ern mit Helmut Newton, der die Mode sexualisierte, wie niemand es bis dahin vor einem so großen Publikum wagte. Newton arbeitet mit strenger Bildkomposition, spielt mit Tabubrüchen. Kaum ein Feld bietet diese Brüche so vielseitig an wie die Modefotografie, in der die Funktion des Vorführens von Mode das Problem des Vorführens von Frauen mit sich bringt. Die Rolle des Models bewegt sich laut der Kunsthistorikerin Caroline Evans „auf unangenehme Weise zwischen der eines Subjekts und eines Objekts, zwischen animiert und leblos, zwischen lebendiger Frau und Attrappe”. Mit exakt dieser Problemstellung generiert Newton ein fotografisches Kapital, das in seinen äußersten Formen Fetische anklingen lässt: Tina Chow an einen Tresen gefesselt, Nadja Auermann an Krücken, im Rollstuhl oder mit einer Beinprothese, die Bodybuilderin Lisa Lyon an einer Stange hängend, eine kopflose Frau auf dem Rücken liegend, während ein Schäferhund über sie hinwegsteigt. „Stopper”, nennt Anna Wintour, die Chefredakteurin der amerikanischen Vogue, die Fotostrecken von Helmut Newton – Bilder, über die niemand hinwegblättern kann. Eine typische Pin-up-Pose einer auf allen Vieren hockenden Frau denkt Newton so zu Ende, dass er auf den Rücken der Frau einen Pferdesattel setzt. Newton benutzt Fashion, um ihre gängige Ikonographie zu zerschlagen und als Fetisch wieder zusammenzusetzen. Gerade durch die Fetischisierung fokussiert er auf die Rollen, die den Geschlechtern zugeschrieben werden. Dass solche Bilder nur innerhalb des Kontextes funktionieren, den sie sprengen, birgt ebenso viel Spannung wie Gefahr. Der Tabubruch erregt Aufmerksamkeit, Newton erreichte über Fashion-Magazine ein Millionenpublikum, aber wenn der Tabubruch Entsetzen erregt, folgt der Skandal. Als das Magazin Stern 1978 eine Titelgeschichte über den New Yorker Club Studio 54 mit einem Motiv von Grace Jones auf dem Cover bewarb, gab es einen Skandal. Jones war nackt, schwarz wie sie ist, lächelte in Newtons Kamera, während sie an den Füßen angekettet war. Alice Schwarzer versammelte damals prominente Frauen hinter sich, um den Stern für seine Covergestaltung – „bis hin zum viehisch vorgeführten Objekt” – vor Gericht zu bringen. Etwa zur gleichen Zeit, in einer französischen Talkshow, traf Helmut Newton auf die amerikanische Schriftstellerin und Philosophin Susan Sontag, die Newton attestierte, was für ein freundlicher Mann er sei, aber: „As a woman, I find your photos very misogynous.”
Dass sich der Konflikt um die Deutung von Newtons Inszenierungen nicht auflösen lässt, ist vor allem in der Uneindeutigkeit begründet, mit der Newton Frauen männliche Eigenschaften zuschrieb und Männern weibliche Eigenschaften. In seinem Text „World without Men” schrieb er 1975: „The men are women dressed up as men. But the illusion must be as perfect as possible, to try to confuse the reader.”
Die Kunsthistorikerin Nathalie Herschdorfer schreibt in ihrem Band „100 Jahre Modefotografie”: „Helmut Newton gehörte zu den ersten Magazinfotografen, die auch als Künstler wahrgenommen wurden.” Newton habe uns eine neue Betrachtung von allem ermöglicht, was in der Mode verhandelt wird. Gerade in der Rolle des gestaltenden Künstlers holte Newton die Aktfotografie aus ihrer Nische und lud sie mit Glamour, Pop und Diskurs auf. Mit den Umbrüchen des Verlags- und auch Modemarkts in den 1990er Jahren eroberte eine neue Generation von Fashion- und Kulturmagazinen die Märkte. Die Titel lauteten Numéro, Purple, i-D, Popcorn und zuletzt 032c. Ihre Bilderwelten speisten sich aus der Punk- und Street-Kultur, lehnten Glamour ab und verlangten eine neue Generation an Fotografen.
Zur gleichen Zeit, Ende der 1990er war Helmut Newton gemeinsam mit seiner Frau June längst mit der Suche nach einer Heimat für seinen Nachlass beschäftigt. Berlin, die Stadt, in der er 1920 als Helmut Neustädter geboren wurde, sollte diese Heimat werden. Die Stadt, in der der Sohn eines jüdischen Knopffabrikanten mit zwölf Jahren seine erste Kamera kaufte und mit 16 Jahren eine Ausbildung bei der legendären Fotokünstlerin Yva aufnahm. Als Newton auf der Suche nach einem Ort für seinen Nachlass eines Tages vor dem ehemaligen Landwehrkasino in Charlottenburg stand, einem neoklassizistischen Prachtbau, drehte er sich um, zum Bahnhof Zoo, und sagte: „Hier bin ich 1938 abgefahren und habe Berlin verlassen.“
Start: 09.07.2020