17. Dezember 2024
Die langjährig verdienstvollen Osteuropäischen Filmtage in Dresden – Ideenspender war einst der unvergessene Kinobetreiber und Programmkurator Frank Apel – räumen natürlich neuen ungarischen Werken immer wieder Platz ein. Sehr gern sogar. Nur, es kommen nicht mehr so viele von dort hier her. In diesem Jahr hatte es ELFOGY A LEVEGÖ (WITHOUT AIR) von Regisseurin Katalin Moldovai geschafft, der seit über einem Jahr von Festival zu Festival und von Preis zu Preis gereicht wird. Das beeindruckende Drama über eine freigeistige und liberale Lehrerin mit Fachgebiet Literatur, die im zeitgenössischen Ungarn die Grenzen eben jener Liberalität und Freiheit schrammt, ist bei keinem deutschen Verleih gelistet, wird also höchstwahrscheinlich nicht in regulären Kinolisten auftauchen. Es ist ein Jammer!
EINE ERKLÄRUNG FÜR ALLES von Gábor Reisz geht es besser. Nicht minder stark, hat er bei den profunden Verleihern von Grandfilm einen Starttermin gefunden, offene Ohren und Augen inklusive. Letztere darf man sich dann beim Sichten durchaus reiben, denn unmissverständlich wird klar, was fehlt beim Gang ins Alltagskino: Der stabile cineastische Blick ins einstige Freundesland. Und Ausnahmen werden eben keine Regeln. Längst nicht mehr.
Gábor Reisz siedelt seinen Film zunächst im Epizentrum Schule an. Dort und in Familien lassen sich gesellschaftlich-politische Zustände besonders gut verhandeln, wenn man denn das Zeug dazu hat und erträgt, dass man nicht unbedingt hofiert wird von jenen, die gerade an der Macht sind. So wurden EINE ERKLÄRUNG FÜR ALLES jegliche staatliche Fördermittel versagt. Auch darüber, dass der Streifen von Venedig bis Chicago im wahrsten Sinne „ausgezeichnet“ ankam, hat man im Heimatland – das jetzt ja gern „Orban-Ungarn“ genannt wird, was natürlich nur zu Teilen stimmt – offiziell geschwiegen. Kein Wunder ist’s.
Der Film streckt sich erst nach und nach und dreht die Spannungsschraube unaufhörlich ins Mark der Realitäten. Am Beginn schaut man dem 18-jährigen Ábel eher lauernd dabei zu, wie er mehr unbeholfen als beseelt an seiner Liebe zu Janka bastelt, damit sie ihm nicht nach den letzten Sommerferien abhanden kommt. Und dieses Jahr am Balaton! Bis dahin stehen die Abiturprüfungen an, in Geschichte zum Beispiel. Ábel hat sich augenscheinlich durch die Schule geschleppt, um die Ziellinie überhaupt zu erreichen. Jetzt, vor versammeltem Gremium, ereilt ihn der totale Blackout im Kopf. Heikel allerdings, dass er eine Kokarde am Revers trägt, eine bedeutungsschwere, hier ungarisch-nationale Nadel, die fatale Dinge ins Laufen bringt. Zum Jahrestag der 1848er Revolution im März wird das Ansteckwappen in Ungarn, wenngleich zunehmend heftiger diskutiert, noch kollektiv getragen. Verteilt über den Rest des Jahres ist es allerdings vom nationalen zum nationalistischen Symbol mutiert. Logisch, dass Lehrer Jakab provoziert ist, denn im, wie Regisseur Reisz sagt, „geteilten Land mit erdrückender Atmosphäre“ ist er auf der anderen Seite. Dort, wo sich ungarische Bürger nicht mit repressiven Eingriffen der Regierenden, übrigens auch an den Filmschulen des Landes, abfinden wollen. Weshalb Ábel die Kokarde trug? Nachdem er die Prüfung in den Sand gesetzt hat, ist es nicht mehr so wichtig. Das Mühlrad der Ereignisse dreht sich längst. Ábels Vater, ein Architekt, dreht als bekennender Erzkonservativer der nächsten anderen Seite am eigenen Rad, Jakab sucht nicht zum ersten Mal die offene Konfrontation mit „diesem Fidesz-Wähler“ und zu allem Pech nimmt auch noch eine übereifrige Journalistin Witterung auf.
Wie gesagt, EINE ERKLÄRUNG FÜR ALLES spult sich so unaufhörlich wie unerbittlich hoch, weist vom scheinbar nur Privaten dorthin, wo es richtig lodert. Das alles wird von einem kraftvollen Ensemble fein ausgespielt und ist in Nuancen – aller Seiten – entwaffnend.
Ich empfehle an dieser Stelle ausdrücklich, nach der exklusiven PK-Ost-Vorführung am 19. Dezember noch den digitalen Frage-Antwort-Termin mit Regisseur Gábor Reisz wahrzunehmen. Es ist viel besser, mit einem Ungarn zu sprechen, anstatt nur über.
(Tageseinsatz ab 20. Dezember im Dresdner Zentralkino)