Körners Corner - schreiben über Film


1. Oktober 2024

Treff der Anonymen Erinnerer

Da passiert, von außen betrachtet, gar nicht so viel. Die Anonymen Alkoholiker treffen sich und besprechen die Gefühle der Woche, auch auf Arbeit und daheim macht sich für Sylvia Routine breit. Welchen Wert diese Alltäglichkeiten mit Betroffenen, Kollegen und ihrer 13-jährigen Tochter Anna aber in Wirklichkeit haben, wird sich erst nach und entfalten. Selten sah ein Wort wie „entfalten“ an dieser Stelle schöner aus.
Es sind vor allem Erinnerungen, die Sylvias Jahre, Wochen, Tage, Stunden prägen. Die sie doppelt ängstlich werden ließen mit sich und Anna, die in einem Alter ist, wo das Beschützen der Kinder neue Instinkte braucht, das Hubschraubern ausnahmsweise rechtfertigt, aber dann trotzdem eher verschreckt.
Wie doppelt verloren sitzt Sylvia beim Klassentreffen und hebt müde ihr Wasserglas zum kollektiven Cheers. Besser wäre, sie ginge weg von dort. Ein Mann setzt sich an ihren Tisch, wird ihr durch die Nacht folgen und morgens hockt er noch immer vor Sylvias Fenster. Es ist Saul und er wird im Stich gelassen. Von seiner Erinnerung. Demenz im frühen Stadium lautet die Diagnose. Sein Bruder wohnt bei ihm im Haus, damit die Dinge am Laufen bleiben, Tabletten kaschieren Lücken, der Morgenmantel passt Saul noch am Abend. Dass er Sylvia nachgelaufen ist, könnte bei ihm schon bald im Reich des Vergessens gelandet sein und doch werden sich beide dem Thema noch mal stellen müssen: Sylvia, die sich ja erinnert, Saul, dem es nicht gelingt. Als Anna ihrer Mutter ungefragt zur Seite geht, erst forscht, dann aufklärt, schieben sich die Wolken etwas frei für eine nun wirklich sehr besondere So-etwas-wie-Liebesgeschichte. Eine Familiengeschichte ist es längst und sie geht weiter. Auf die harte Tour.
Kein Platz für Hysterie. Kein Raum für Gedudel, einzig Procol Harums Song „A Whiter Shade Of Pale“ darf marmorieren. Dafür großes Schauspiel von Jessica Chastain, Peter Sarsgaard und Brooke Timber, dieser grandiosen Entdeckung. Es ist die Temperatur eines unvergesslichen Dramas wie LOVE LIZA von 2002 mit dem nicht minder unvergesslichen Philip Seymour Hoffman, die auch Michel Francos MEMORY den Puls verleiht. Plus all das Unausgesprochene, Ungezeigte, das nicht als billige Sehhilfe Rückgeblendete, jenes also, das nichts anderes ist als die Essenz des Lebens.
Mit diesem so tiefen wie befreienden Durchatmen darf der hiesige Filmherbst beginnen.

Post für Andreas Körner