Körners Corner - schreiben über Film


26. September 2024

Steinreich: Kossakowsky kommt

Zuletzt hatte der russische Regisseur Viktor Kossakowsky Schwein gehabt. GUNDA (2021) war eine unkommentierte und musikfreie Hommage ans Borstentier und andere landwirtschaftliche Lebewesen. Außer Menschen. Zuvor war der 1961 in Leningrad geborene Regisseur mit AQUARELA (2018) der Macht, Güte und Unbändigkeit des Wassers erlegen. Seine Filme sind längst keine Dokumentationen mehr, sie sind zu Essays gewachsen, zu psychedelischen Auf- und Abfahrten und bildphilosophischen Exkursen. Viktor Kossakowsky misstraut labernden Worten und widmet sich voll und ganz der Optik und Tonspur. So könnte man ihn in Sachen Inspiration ohne Mühe hinter Godfrey Reggios QATSI-Trilogie verorten, mit dem 2014 schon verstorbenen Österreicher Michael Glawogger (WORKINGMAN’S DEATH/MEGACITIES) auf Sichtweite wissen und dem Deutschen Thomas Riedelsheimer (RIVERS AND TIDES) nicht minder. Und falls sich noch jemand an das fulminante Filmstück auf offener See, LEVIATHAN (2012) von Lucien Castaing-Taylor und Verena Paravel erinnert, bitteschön!
Jetzt startet Viktor Kossakowskys ARCHITECTON und nicht viel ist anders. Erkenntnisgewinn muss man sich selbst erpuzzeln, bis auf ein paar zurückhaltende, am Ende nüchtern bilanzierende Worte des Architekten und Designers Michele De Lucchi (72) ist der reichlich eineinhalbstündige Film erneut dialogfreies Meditationsterrain. Der Italiener sei ein großes Kind, sagt Kossakowsky. So wie er bei aufkommendem Schneetreiben von zwei Helfern einen „Steinkreis des Lebens“ in seinen Garten am Gardasee setzen lässt, den danach nur noch Tiere betreten dürfen, könnte man es sofort glauben. Ebenfalls mit De Lucchi beginnt ARCHITECTON: Er steht vor dem größten von Menschenhand erschaffenen Megalithen namens Hajjar al-Hibla in Baalbek/Libanon. Was man – gottlob – nicht sieht: Er hat geweint dabei.
Steine also. Es geht um Kreisläufe und Quader, mutwillige Zerstörung und Naturgewalt, das Überdauern von Jahrhunderten und die Kurzlebigkeit. Kameradrohnen fliegen über Kriegs- und Erdbebengebiet, extraordinäre Steinbrüche und antike Stätten, Waldreste und Müllhalden, über einen 3D-Drucker für Beton. Steine in vergleichsweise Bröselgröße tanzen auf Fließbändern ihren eigenen Rap, während ein Künstler versucht, wirklich auf Kunst zu machen und verschiedene Exemplare Spitz auf Knopf ihrem eigenen Gewicht zu überlassen. Es gibt Stille und harsche Eigengeräusche sowie die hier druckvoll illustrierende, dort auf und davon galoppierende Musik von Jewgeni Galperin. Es gibt Zeitlupen und Superzeitlupen, Farbe und Schwarz-Weiß. Schrifttafeln der Orte, wo man sich mit dem Auge gerade befindet, gibt es nicht.
Man kann Regisseur Viktor Kossakowsky auch danach befragen, denn er kommt persönlich zur Dresden-Premiere von ARCHITECTON noch vor Bundesstart ins PK Ost.

Post für Andreas Körner