Körners Corner - schreiben über Film


16. Oktober 2024

„Ich sehe die Liebe meiner Eltern“ - Von einer Begegnung mit Helle und Hans Coppi junior

Im Nachgang zur Körners Corner #102 im PK Ost – es war die Premiere von Andreas Dresens IN LIEBE, EURE HILDE mit Drehbuchautorin Laila Stieler und Schauspieler Johannes Hegemann – möchte ich gern allen einen Text zugänglich machen, den ansonsten nur ausgewählte Kreise zu lesen bekommen. Er steht im begleitenden Pressematerial zum Film und bündelt zwei Tage in Berlin im April 2023, die jetzt, da HILDE endlich starten darf, bei mir noch immer nachwirken.

80 Jahre? Hätte man nicht vor der Begegnung mit Hans Coppi junior vieles von ihm und über ihn gelesen, Fotos angeschaut, hätte ihn nicht in Dokumentarfilmen gesehen, wo er als Historiker und Nachkomme gern geladener Protagonist war, man würde zweifeln. Wirklich acht Jahrzehnte Leben liegen hinter diesem Mann? Wie er im Türrahmen steht, groß, schlank, wie er lächelt, auch mit den Augen, ein Lächeln, das als verschmitzt, mild und offen schon beschrieben wurde und genauso ist. Später am Tisch der Wohnküche blättert er in Broschüren, kommuniziert mit Helle, Galeristin und seit 43 Jahren seine Ehefrau, gibt geduldig einem nächsten Gast ein nächstes Mal persönlichen Einblick in seinen nun wirklich besonderen Lebenslauf. „Ach, komm!“, sagt man für gewöhnlich, „Du siehst wie 70 aus. Höchstens!“ Für Hans Coppi sollte man sich, wenn überhaupt, andere Komplimente einfallen lassen. Essenzielle.

WO DAS HERZ SITZT
Die eigenen Worte erreichen ihn jetzt langsamer als früher, es dauert länger, bis sie sich finden und aussprechen lassen. An Gewicht aber büßen die Worte nichts ein, weil sie spürbar dort entstehen, wo das Herz sitzt. Für IN LIEBE, EURE HILDE haben auch Drehbuchautorin Laila Stieler, Regisseur Andreas Dresen und Schauspielerin Liv Lisa Fries mit Hans Coppi Begegnungen erleben dürfen, die bedeutend waren und weit übers Recherchieren hinausgehen sollten. Für Hans waren es mit den dreien „immer sehr schöne Gespräche, weil man sich mit ihnen verstehen konnte. Sie haben viele Fragen, aber nichts infrage gestellt.“
Das Treffen mit Helle und Hans Coppi in ihrer Wohnung in Berlin, dort, wo die Mitte früher der Osten war und das Ehepaar seit 1984 lebt, findet eine Woche nach der Sichtung des fertig geschnittenen Films statt. Gemeinsam zu sehen, wie das Kino ein nächstes Mal so emotional wie kraftvoll pures Leben adaptiert, war wichtig für alle Beteiligten. Hans Coppi: „Meine erste Reaktion, als ich von dem Projekt erfuhr, war diese: Eigentlich weiß ich nicht, ob ich dann in den Film gehen möchte. Aber es folgten viele wirklich gute Gespräche mit meiner Frau, mit den Freunden und dem Filmteam, so dass ich mich dazu entschließen konnte, es gemeinsam durchzustehen. Es tut ja auch weh. Jetzt, nach dem Sehen, kann ich sagen, dass alles gut ist für mich, obwohl ich natürlich auch etwas traurig war.“ IN LIEBE, EURE HILDE sei ausgewogen im Sachlichen, aber besonders hat Hans Coppi eines gespürt: Liebe. „Ich sehe die Liebe meiner Eltern. Liebe auf verschiedene Weise. Der Film hat etwas sehr Persönliches. Nicht nur das, was uns traurig macht, sondern hier sind Menschen zu sehen, die ihr Leben wirklich gelebt und geliebt haben.“

MIT GESCHICHTE BERÜHREN
Helle Coppi weiß sehr genau, was ihrem Mann im Blick auf Mutter und Vater und deren Berliner Freundeskreis um Harro und Libertas Schulze-Boysen wichtig ist. Auf dem Weg dorthin war sie ihm Jahrzehnte lang Begleiterin, auch auf Reisen durch die Welt: „Hans hat sein gesamtes Forscherleben über versucht, diese Helden der ,Roten Kapelle’ zu Menschen zu machen. Die Geschichte seiner Eltern war immer berührend, wenn man darüber gelesen und Fotografien gesehen hat, die zeigen, wie gepaddelt, gesungen, gelacht oder gezeltet wurde. Andreas Dresens Film nimmt das alles nun auf eine Art auf, die Sachbücher, wie sie auch Hans geschrieben hat, nicht leisten können. So, wie der Film stilistisch gemacht wurde, ist diese Lebensgeschichte überhaupt zu ertragen.“
Eine Lebensgeschichte, die für die kleine Familie schon endet, bevor sie überhaupt damit beginnen konnte, eine solche zu sein und bevor der gemeinsame Sohn von Hans und Hilde Coppi bewusst wahrnehmen kann, was es heißt, Eltern zu haben. Geboren am 27. November 1942 im Berliner Frauengefängnis Barnimstraße, gibt es mit dem inhaftierten Vater eine einzige, sehr kurze Begegnung nur wenige Tage danach. „Nun habe ich ja gestern unseren Jungen gesehen und angestaunt“, schreibt er kurz darauf an Hilde. „Es war gut, dass ich ihn wenigstens berührte, sonst glaubte ich heute, es war ein schöner Traum.“ Mit der Mutter darf Hans acht Monate lang zusammen sein, bevor er, in ein Kissen gehüllt, am 3. August 1943 Oma Hedwig übergeben wird. Der Junge wächst zunächst bei ihr auf, nach Kriegsende dann bei den Großeltern väterlicherseits. Von Mutter und Vater bleiben bis heute nur eine Handvoll Fotografien und persönliche Briefe sowie die Erzählungen jener, die beide gekannt haben. Erst vor zwei Jahren tauchte im literarischen Nachlass des Schriftstellerehepaars Wera und Claus Küchenmeister ein weiteres Kuvert mit Briefen vom Vater auf, die er im Gefängnis geschrieben hat. Und wieder ging es für die Coppis nicht um sensationelle neue Enthüllungen, sondern um ein nächstes Bruchstück von hohem persönlichen Wert.

VON FRAUEN GEPRÄGT
80 Jahre! Zu glauben, man könnte in ein, zwei Stunden durch eine solche Biografie pflügen, entbehrt jeder Sinnhaftigkeit. Im Filtern aber und dem Versuch, Momente einzufangen, liegt die Essenz am Tisch mit Helle und Hans Coppi. Sehr berührend ist der kleine Schalk, der sich meldet, als Hans sich daran erinnert, wie ihn Großmutter Frieda, eine resolute Frau soll sie gewesen sein, „so einige Male mit dem Teppichklopfer begrüßt hat. Ich war ja vor allem von ihr geprägt, sie war ziemlich weltgewandt, erst mit ihrer Schneiderinnenlehre in Paris, dann hatte sie in Berlin-Tegel eine Eisdiele, die es heute noch gibt. Sie war es aber auch, die mir als Kind immer wieder gesagt hat, ich solle achtsam sein in dem, was ich sage und tue. Du weißt, hat sie gemahnt, deine Eltern … Ich sollte ihnen keine Schande machen.“ Es begann wohl mit dem Stibitzen von Äpfeln aus Nachbars Garten, was „so gar nicht ging für einen Jungen wie mich.“ Vorbild sein zu müssen, ließ später den Druck noch wachsen. Hans Coppi, das Heldenkind! Eine Projektion von außen. Zu wenige sprachen über das Heftigste - über den Verlust, die Lücke.
Hans Coppi: „Das ganze Thema mit meinen Eltern hat mich natürlich auch belastet. Ich wollte mich damals nicht intensiver mit den Umständen beschäftigen. Ich wollte kein Forscher werden, doch es gab immer wieder Erwartungen an mich, die ich eben nicht ganz nicht erfüllen konnte, vor allem in der Schule und seitens der Lehrer.“ Doch auch andere Gedanken kommen hoch - an eine „wirklich schöne Zeit“ im Kinderheim „Hilde Coppi“ im sächsischen Dorfhain, wo er oft in den Ferien gewesen ist, auch an vier Internatsjahre im thüringischen Wickersdorf, wohin er mit 14 kam und wo es noch heute Klassentreffen der Ehemaligen gibt.
Der Einfluss von Frauen ist für Hans Coppi stets bedeutend gewesen. Nach den Großmüttern waren es vor allem Grete Wittkowski und Greta Kuckhoff, wobei Letztere, Witwe des am gleichen Tag wie Hilde Coppi in Plötzensee hingerichteten Schriftstellers Adam Kuckhoff, für Hans nach dem Tod der Großeltern juristischer Vormund wurde. Diese beiden „klugen und modernen Frauen“ brachten ihm noch einmal eine gänzlich neue Wohn- und Esskultur nahe, Theater und Bücher. Kuckhoff und Wittkowski waren es auch, die Hans ermunterten, an der Hochschule für Ökonomie zu studieren als Grundlage zur späteren Arbeit im DDR-Außenhandel. Ein Studium an dem Ort also, wo Großvater Robert Hausmeister war, Großmutter Frieda die Studierenden betreute und Hans als kleiner Junge schon mit dem Roller durch die Gänge fuhr.

FORSCHEN UND INFORMIEREN
Hans engagierte sich zeitig auch politisch. Dass er sich dabei den realistischen Blick und kritischen Geist bewahrt hat, offen und integer, feinfühlig und sensibel geblieben ist, schätzen viele Menschen sehr, die ihn auf dem Weg treffen konnten und sei es nur für eine knapp bemessene gemeinsame Zeit. Er selbst war schon in seinen Vierzigern angelangt, als der ehemalige Widerstandskämpfer und Historiker Heinrich Scheel, dereinst Mitschüler von Hans Coppi senior auf der Insel Scharfenberg, an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften eine Forschungsgruppe zum Widerstand im Nationalsozialismus gründete. Schwerpunkt: Arvid Harnack/Harro Schulze-Boysen. „Ich wollte endlich umfassend informiert werden und andere informieren. Deshalb habe ich zugestimmt, in der Gruppe mitzuarbeiten. “ Hans Coppi blieb dabei. Vor und besonders nach dem gesellschaftlichen Umbruch 1989 recherchierte er auch in der Sowjetunion und fand entscheidende Fakten für die Geschichtsschreibung über die „Rote Kapelle“ heraus. Von einer besonders bewegenden, weil tragischen Wahrheit spricht er am Ende von IN LIEBE, EURE HILDE im originalen Ton: Nur ein einziger Funkspruch seines Vaters, noch dazu ein inhaltlich eher lapidarer Test, sei damals in Moskau angekommen. Die geringe Reichweite ...
Nach und nach haben sich für Hans Coppi die Konturen gerade von seiner Mutter Hilde geschärft: „Sie hat sich in ihrem Leben immer wieder geöffnet. Anfangs war sie noch sehr auf ihre Mutter und sich fixiert, aber schon durch die Begegnung mit ihrem jüdischen Freund Franz Karma, der 1939 aus Deutschland ins Exil ging, wurden die Themen einfach größer. Franz zu folgen, wäre für sie keine Option gewesen, es gab ja ihre kranke Mutter. Es waren also menschliche Gründe zu bleiben. Dann kam mein Vater in ihr Leben, sie haben gemeinsam über die Welt geredet und diskutiert. Einige aus seiner Gruppe stammten ja aus einem kommunistischem Umfeld und meine Mutter hat entschieden, dass es ihre Freunde wurden. Sie wollte für sich immer Klarheit haben, die direkte Konfrontation mit all den Themen war neu für sie. Sie wusste aber schon zuvor durch die Verhaftung ihrer Freundin Grete Jäger, wie gefährlich es auch werden kann.“
Für Hans Coppi gab es in all den Jahren immer wieder inspirierende, teils überraschende oder eben bewusst gepflegte Begegnungen und Beziehungen mit ehemaligen Widerstandskämpferinnen und -kämpfern oder deren Angehörigen. Er traf Gefängnispfarrer Harald Poelchau genauso wie Leopold Trepper und Anatoli Gurewitsch, die ehemaligen vor allem in Westeuropa tätigen Agenten der „Roten Kapelle“. Aus einem Kontakt nach Prag ergab sich die Freundschaft zu einer tschechischen Familie, die bei einem Besuch in Berlin ein unschätzbar wertvolles Foto von 1943 aus dem Gefängnis Barnimstraße finden konnte. Darauf zu sehen war die Mutter der Freundin.

ORTE VON BEDEUTUNG
Zum Abschied präsentieren Helle und Hans Coppi noch ihren Blick von den Wohnzimmerfenstern aus auf den Spreekanal und die Fischerinsel, wo Berlin so gar nicht hitzige Großstadt sein will. Hans zeigt seinen Spazierweg zur Brücke, den er so oft wie möglich läuft. „Der ist schön, den musst du dann mal nehmen.“ Geraten, getan! Dort entlang zu spazieren, beruhigt für die eher aufregenden Wege danach an diesem Tag, die nach Tegel führen, nach Plötzensee und auf den Dorotheenstädtischen Friedhof. Wege, die Spurensuche sind und direkt die Coppi’sche Lebensgeschichte tangieren.
Draußen in Tegel gibt es noch immer die Kleingartenkolonie „Am Waldessaum“. Dort, wo Hans und Hilde am glücklichsten waren und ihre Liebe leben konnten. Am Eingang sind die beiden Stolpersteine für die Eheleute in den Fußweg eingelassen und vor der 1947 neu errichteten, weil im Krieg zerstörten Laube mit kleiner Gedenktafel, die einst bescheidener Wohnort der Familie war, liegt ein Hund in der Aprilsonne. Helle und Hans kommen ab und an hier her, auch mit den Enkelinnen, obwohl das Grundstück längst nicht mehr den weitläufigen Verwandten gehört.
Dann in Plötzensee begegnen sich Historie und Gegenwart auf bizarre Weise. Abgetrennt von der noch immer betriebenen Justizvollzugsanstalt befindet sich die Gedenkstätte mit der ehemaligen Hinrichtungsbaracke, in der über 2800 Gefangene aus 20 Ländern enthauptet oder erhängt wurden. Hans und Hilde Coppi waren darunter und beide könnten die jetzt mächtigen Bäume, die im Hof thronen, mit eigenen Augen gesehen haben.
Jahrzehntelang war nicht viel Näheres darüber bekannt, was mit all den Leichen geschehen ist. Es gab keinerlei Gräber. Erst als 2016 im Nachlass von Hermann Stieve, Gynäkologe und zu NS-Zeiten Leiter des Anatomischen Instituts der Berliner Charité, Kisten mit über 300 teilweise beschrifteten mikroskopischen Gewebeproben gefunden wurden, konnte ein angemessener Erinnerungsort entstehen. Im Mai 2019, über sieben Jahrzehnte nach ihrem Tod, wurden diese Proben von in Plötzensee ermordeten Frauen auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof bestattet, auf Wunsch der Angehörigen anonym. Auch Helle und Hans Coppi gehen an bestimmten Tagen dorthin und bringen Blumen vorbei.
Wie hat Hans Coppi junior so schlicht wie klug gesagt? „Es geht ja vor allem um die Nachkommen.“

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