Körners Corner - schreiben über Film


23. September 2024

Und heute: Schulstoff

Der Filmtitel mit seiner aufreizend doppelten Bedeutung wurde Regisseurin Ruth Beckermann auf dem Tablett serviert. FAVORITEN, eine Langzeitbeobachtung immerhin über drei Jahre, ist Kindern und ihrer Lehrerin gewidmet. Als Menschen und Typen favorisieren sie sich gegenseitig. Sie tun es im zehnten Gemeindebezirk von Wien, der der bevölkerungsreichste der österreichischen Hauptstadt ist und gern als „gefährliches Problemviertel“ und „Brennpunkt mit 40 Prozent nichtdeutschen Muttersprachlern“ bezeichnet wird. Der richtige Name dieses Stadtteils lautet - Favoriten.
Ilkay Idiskut, zu Filmbeginn 33 Jahre jung, ist als türkischstämmige Frau in Wien geboren worden. Wie es in ihrer Schulzeit wohl gewesen ist, verrät sie hier nicht (Hintergrundfakt: Sie war damals in ihrer Klasse die einzige Schülerin mit Migrationshintergrund). Da Ruth Beckermanns Dokfilm kein Disputfilm, sondern wirklich eine pure Beobachtung ist, gibt es keine Kommentare, keine gestelzten Interviews, keine Schrifttafeln, nur die Realität plus Kamera. Nach 123 Minuten haben sich Lehrerin Ilkay und Alper, Amina, Arian, Dani und Danilo, Manessa, Mohammed, Melisa und die anderen dieser komplett multinationalen Volksgrundschulklasse mit voller Fahrt voraus in die Herzen der Zuseher geschlichen.
Am Ende von FAVORITEN wird die dynamische Ilkay Idiskut ihre Klasse abgeben, schweren Herzens, trotzdem mit Vorfreude, bekommt sie doch ihr erstes eigenes Kind. Tränen fließen hier wie dort. Eine Schülerin hat aufgeschrieben: „Eine gute Lehrerin ist schwer zu finden, hart zu verlassen und unmöglich zu vergessen.“ Hui, was für ein Satz! Ilkay hat zuvor mit den Kindern den Körperteil-Blues getanzt, Zahlen gesucht und gefunden, die ineinander verliebt sind (damit die Addition am Ende stimmt). Sie hat Dutzende Elterngespräche ins Nichts geführt und einige davon ins Ziel gebracht, hat mit der Klasse eine Moschee wie den Stephansdom besucht und sich darüber gewundert, dass es einem Jungen am Ende das Wichtigste vom Tag war, dass er bei McDonalds gewesen sei. Ilkay Idiskut hat die Mädchen und Jungen dabei ermuntert, Ruth Beckermanns Idee durchzuziehen, sich gegenseitig Fragen zu stellen, auf Video aufzunehmen und einen Perspektivwechsel auch für den Zuschauer anzubieten. „Möchtest du mal heiraten?“, fragt dabei ein Mädchen das andere. „Nein, danke!“, lautet die Antwort. „Ich möchte gern Zeit für mich haben.“ Humor ist also auch dabei? Unbedingt!
Regisseurin Beckermann verengt den Blick an Wiens größter Volksschule auf den Mikrokosmos einer kleinen Gruppe, denn es braucht keine anderen Drauf- und Außenansichten. FAVORITEN ist universell. Ruth Beckermann: „Wir haben in Blöcken von drei Tagen hintereinander gedreht. Der erste Tag war meist etwas mühsam, dann ist es immer besser geworden. Dazwischen ließen wir immer ein paar Wochen Pause. Wir haben sehr viel Material gedreht. Eigentlich waren wir mit unserer Dreieinhalbstunden-Fassung schon sehr zufrieden, haben den Film jedoch immer wieder liegen lassen, verdichtet und verdichtet.“
Das war gut. Denn die finale Version ist nun fokussiert und komprimiert auf Lust und Launen und Staunen, ein paar Tränen und all das als Spiegelbild des Miteinanders.
FAVORITEN folgt anderen „Schulstoffen“ wie DAS LEHRERZIMMER, SEIN UND HABEN, HERR BACHMANN UND SEINE KLASSE. Und einem so wuchtigen wie berührenden Drama, das im Frühjahr dieses Jahres schon im Kino war, schwer um Beachtung rang und jetzt zum Nachsehen für daheim bei Ascot Elite erscheint: RADICAL – EINE KLASSE FÜR SICH. Regisseur Christopher Zalla geht als Fiktionalisierung einer wahren Geschichte und real existierender Schauplätze nach Mexiko, genauer an die Grundschule „Jose Urbina Lopez“ in Matamoros, dicht an der Grenze zur USA. Dort beginnt Sergio Juarez, nach einer von ihm forcierten Versetzung, seinen Dienst als Lehrer und er startet schon mal damit, seiner sechsten Klasse weiszumachen, ihr Unterrichtsraum sei das offene Meer …
Sergio wusste von vornherein, dass es an dieser Schule, die stabil zu jenen mit den schlechtesten Schülerleistungen im Land gehört, völlig neue Methoden braucht, um die Kinder zu erreichen. Der Weg dorthin klingt aus Sergios Mund so neu gar nicht, eher wie durch andere, dann fragwürdige Methoden verbaut: „Was jeder von euch braucht, habt ihr bereits: Potenzial. Ihr entscheidet! Lasst uns Fehler machen!“
Sergio hat nur einen Wunsch für seine Arbeit: Er will kein Kind verlieren, nicht ein einziges. Es wäre wirklich schön, der Computerraum würde schon existieren (RADICAL spielt 2011), aber ein Hinderungsgrund für lebendigen Unterricht ist das Fehlen nicht. Physikalische Verdrängung wird in der Badewanne veranschaulicht und der Direktor steigt dafür ins Wasser. Philosophie, Astronomie, Mathematik – vor allem Praxisnähe wird zum Pfund für Lehrer Lopez und vor allem für die Kinder. RADICAL könnte sich im Leichtgewicht verlieren, um das Thema „sehbar“ zu machen. Tiefe Humanität, Kraft, Hoffnung und Realitätsbewusstsein holt er sich aus unverstellter, auch hier radikaler, am Ende aber nötiger und kompromissloser Marmorierung mit mexikanischen Tatsachen. Er kommt nicht an Gewalt, Armut, Einsamkeit, Drogen und dem Tod vorbei. Er will es nicht.

Post für Andreas Körner