18. November 2024
Sagen wir es so: Wäre nicht der Denkkorridor unser Lieblingsraum, in dem wir uns so hübsch eingerichtet haben, wären wir wirklich offen für sehr prononcierte Wort- und Bildmeldungen, hätten wir weniger Schaum vor dem Mund beim Sprechen und Streiten, kurzum, wären wir allesamt ein wenig reifer, könnte ein Film wie NO OTHER LAND einfach ins Kino kommen wie jeder andere auch. Man würde ihn vor allem nach seiner künstlerischen Qualität beurteilen und dann, weil es ja ein Dokumentarfilm ist, einordnen, wie er sich wohl im Alltag schlägt. Erst zum Schluss und bis dahin am Rande wäre bestenfalls erwähnenswert, was es an Begleitmusik, durchaus auch mit Misstönen, um ihn herum gegeben hat.
Im Realen aber – Europa, November 2024 – verschiebt sich diese Aufzählung zum wiederholten Male. Im großen Stil wird daran erinnert, dass es auf der diesjährigen Berlinale einen „Eklat“ gegeben hätte, wechselweise, weil man diesem Werk überhaupt einen Goldenen Bären gegeben hat (Achtung: Er bekam auch den Publikumspreis!) und weil sich zwei der anwesenden Filmemacher auf der Gala „polarisierend“ geäußert hätten, man nannte es auch „antisemitisch“ und den ganzen Film gleich mit. Bissige Vorwürfe und späte Entschuldigungen folgten, es braucht nur ein paar Klicks im Netz, um die Nachrichtenkette seit Februar rasseln zu lassen.
Jetzt ist NO OTHER LAND, der (Zitat) „Skandalfilm“, regulär auf den Leinwänden zu sehen, freigegeben zur komplexen Meinungsbildung. Zwei Nominierungen für den Europäischen Filmpreis, der im Dezember verliehen wird, hat er zudem. In Berlin kochte es um den Start herum erneut in die Höhe, weil das Hauptstadtportal Berlin.de, von einer externen Agentur beliefert, in seinen Filmbeschreibungen die Antisemitismusvorwürfe gegen die Film-Crew kolportierte. Man löschte die Passagen schnell, mutmaßlich, nachdem sich besagte, nicht benannte Agentur NO OTHER LAND endlich mal zeigen ließ, nachdem sie darüber geschrieben hat.
Natürlich ist dieser aufwühlende, in Teilen hart anzusehende Film, der mit hautnaher Kamera die Schicksale von palästinensischen Menschen im von Israel besetzten Westjordanland beschreibt, extrem einseitig. Aber: Er darf es sein. Natürlich ist der Film nicht ausgewogen, sondern subjektiv und aktivistisch. Aber: Er darf es sein. Und ja, natürlich überrascht zunächst, dass er im Team von je zwei Israelis und Palästinensern erschaffen wurde. Wer allerdings allein aus dieser Tatsache heraus einen 360°-Blick erwartet, wird schwer enttäuscht. Selbst ein Dokfilm muss das nicht leisten. Im Gegenteil, viele Streifen killen ihre eigene Wirkkraft durch ein eher schwammiges, am Ende unentschlossenes Hin- und Herschwenken. Freies Kino aber war noch nie ein Ableger der Bundeszentrale für Politische Bildung!
Was musste der US-amerikanische Regisseur Joshua Oppenheimer nicht alles einstecken, als er 2012 THE ACT OF KILLING präsentierte, einen künstlerisch freigeistigen, extrem herausfordernden Dokumentarfilm über massenhafte politisch motivierte Gewalt in Indonesien. Es war riskant. Warum? Er verließ nie die Täterperspektive, mehr noch, OPPENHEIMER ließ im Heute ehemalige, nie verurteilte Verbrecher aus den 1960ern ihre Taten „nachspielen“. Und bekam Ärger. Wie, in drei Teufels Namen, kam man auf die Idee, er würde Täter feiern?
Der Regisseur brachte zwei Jahre später THE LOOK OF SILENCE heraus. Gleiches Thema, anderer Fokus. Jetzt ging es ausschließlich um die Opfer. Diese Vorgehensweise wäre auch für die Schöpfer von NO OTHER LAND eine Option und zwar nicht unter dem schematischen Täter-Opfer-Aspekt, sondern einfach, um den in Nahost über endlose Jahre gärenden, extrem schwer zu dechiffrierenden Konflikt mit künstlerischen Mitteln zu berühren. Allumfassend zu greifen wäre er trotzdem nicht, denn Wissen braucht mehr.
Keine Denkkorridore, wirkliche Offenheit, weniger Schaum vor dem Mund, kurzum: Reife.
Post für Andreas Körner